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(gerade leer macht das hier Sinn)
Man kann sich die beiden hier anvisierten Kulturtypen, der der Sinnkultur (oder Bedeutungskultur) und den der Präsenzkultur, von je verschiedenen Prämissen der menschlichen Selbstreferenz ausgehend vorstellen. In der Sinnkultur versteht sich der Mensch vornehmlich als Bewußtsein (cartesianisch: als res cogitans, als Subjekt), in der Präsenzkultur als Körper (res extensa). Als Subjekt ist der Mensch der Sinnkultur exzentrisch gegenüber der Welt der Dinge (er ist ihr »Beobachter«), während auf der anderen Seite der Körper (nichtexzentrischer) Teil jener kosmologischen Ordnung ist, als welche die Präsenzkultur die Welt der Dinge auffaßt. Das Subjekt »interpretiert« die Welt der Dinge, indem es ihre materiellen Oberflächen durchdringt und unter diesen Oberflächen Nichtmaterielles, nämlich Bedeutungen identifiziert. Dem Körper als Selbstreferenz der Präsenzkulturen hingegen kommt es zu, sich in die Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten der Welt als kosmologischer Ordnung einzuschreiben. (66)
Weil man Zeit benötigt, um Intentionen zu verwirklichen, ist Zeit die dominante Dimension der Sinnkultur. Präsenzkultur dagegen wird dominiert von der Dimension des Raums, denn Räume konstituieren sich um Körper - also um die zentrale menschliche Selbstreferenz der Präsenzkultur. Die (dominierende) Zeitlichkeit der Sinnkultur ist irreversible Zeit, die Zeit einer unvermeidlich verändert werdenden Welt, eine Zeit, in der das Vergangene nie wiederkehren kann, weshalb es einzig für die Erinnerung zugänglich bleibt. Umkehrbar ist hingegen die Zeit der Präsenzkultur - und eben deshalb sind in ihr Magie und Re-Präsentation (Wieder-Gegenwärtigmachen) möglich. Präsenzkultur konstituiert sich um Rituale des Wieder-Gegenwärtigmachens, der Re-lnkarnation. (67)
Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main 2001, S. 63-76.
But an episode that will increase suspense by retarding the action must be so constructed that it will not fill the present entirely, will not put the crisis, whose resolution is being awaited, entirely out of the reader’s mind, and thereby destroy the mood of suspense; the crisis and the suspense must continue, must remain vibrant in the background. But Homer—and to this we shall have to return later—knows no background. What he narrates is for the time being the only present, and fills both the stage and the reader’s mind completely. So it is with the passage before us.
But any such subjectivistic-perspectivistic procedure, creating a foreground and background, resulting in the present lying open to the depths of the past, is entirely foreign to the Homeric style; the Homeric style knows only a foreground, only a uniformly illuminated, uniformly objective present. And so the excursus does not begin until two lines later, when Euryclea has discovered the scar—the possibility for a perspectivistic connection no longer exists, and the story of the wound becomes an independent and exclusive present.
Auerbach, Erich, and Edward W. Said. Mimesis : The Representation of Reality in Western Literature - New and Expanded Edition, Princeton University Press, 2013.
Während den Durst zu löschen er strebt, wird anderer Durst wach;
Denn im Trinken vom Schein des gesehenen Bildes bezaubert,
Liebt er einen Wahn: er hält für Körper, was Schatten.
Sich anstaunt er selbst, und starr mit dem selbigen Blicke
Ist er gebannt wie ein Bild aus parischem Marmor gefertigt;
Liegend betrachtet er stets gleichwie zwei Sterne die Augen,
Schaut mit Entzücken das Haar, das Apollons würdig und Bacchus',
Schaut den elfenen Hals und die Glätte der bartlosen Wangen
Und des Antlitzes Reiz und in schneeiger Weiße die Röte;
Alles bewundert er selbst, was wert ihn macht der Bewundrung;
Sich ersehnt er betört; der preist, wird selber gepriesen,
Der da strebet, erstrebt, und zugleich entzündet und brennt er.
Wie oft naht er umsonst mit Küssen der trügenden Quelle!
Wie oft mitten hinein, den gesehenen Hals zu ergreifen,
Taucht er die Arm' in die Flut und fasst sich nicht in den Wellen!
Unkund, was er erblickt, glüht für das Erblickte der Jüngling:
Der sein Auge betrügt, der Wahn auch hält es gefesselt.
Was, Leichtgläubiger, strebst du vergebens nach flüchtigem Scheinbild?
Nirgends ist, was du begehrst; sieh weg, und es flieht das Geliebte;
Schatten ist, was du gewahrst, vom widergespiegelten Bilde!
[…]
Vor mir steht es und lockt; doch was dasteht so verlockend,
Ach, ich find' es ja nicht. So fesselt den Liebenden Irrwahn.
Was noch mehret den Schmerz, nicht trennt uns die Weite des Meeres,
Nicht ein Gebirg', ein Weg, noch Mauern mit sperrenden Toren:
Karges Gewässer verbietet zu nahn. Selbst möcht' er umarmt sein;
Denn so oft ich den Mund darbiete den lauteren Wellen,
So oft kommt er zu mir mit aufwärts strebendem Antlitz.
Fast, fast scheint er berührt. Wie klein, was die Liebenden scheidet!
Wer du auch seist, komm her! Was trügst du mich, einziger Knabe?ecvh
[…]
Gibst du Worte zurück, die mir nicht dringen zu Ohren.
Ich bin, merk' ich, es selbst. Nicht täuscht mich länger mein Abbild.
Liebe verzehrt mich zu mir; ich errege und leide die Flamme.
Was tun? Soll ich flehn? Mich anflehen lassen? Um was dann?
Was ich begehre, ist mein. Zum Darbenden macht mich der Reichtum.
Dass ich vom eigenen Leib mich doch zu trennen vermöchte!
Was kein Liebender wünscht, ich wünsche mir fern, was ich liebe.
Weg schon nimmt mir die Kräfte der Schmerz, und meinem Leben
[…]
Rief er: "Wo fliehest du hin? O bleib und verlasse so fühllos
Mich, den Liebenden, nicht. Was nicht zu berühren vergönnt ist,
Lass mich wenigstens schaun und nähren den traurigen Wahnsinn."
ls er solches erblickt im wieder geklärten Gewässer,
Trug er länger es nicht: wie gelbliches Wachs an gelindem
Feuer gemach hinschmilzt und wie von der wärmenden Sonne
Taut in der Frühe der Reif, so auch von der Liebe verzehret
Schwindet er hin und vergeht allmählich vom inneren Feuer.
[…]
Da auch noch, wie er längst dem Reich der Toten gehörte,
Schaut er sich selbst in der stygischen Flut.
Ovid, Metamorphosen. Lieber III. Narcissus und Echo.
Die vornehmlich in der Philosophie, der Kunstgeschichte und Bildwissenschaft (s. Kap. IV.7) entwickelte Standardsicht auf Diagramme als einem Medium, das zwischen visuell-bildlicher Anschauung und begrifflich-sprachlicher Abstraktion vermittelt, verweist auf eine für die gesamte Diagrammatik entscheidende intermediale Verschränkung zwischen den semiotischen Basismedien Bild, Schrift und Zahl (s. Kap. III.1). (222)
Diagrammatische Formen übernehmen im Zusammenspiel dieser Basismedien darstellungstheoretisch eine eigenständige Integrations- und Übersetzungsfunktion. Diese Integrations- und Übersetzungsfunktion wird oft als eine zwischen Bild, Schrift und Zahl changierende Medialität bzw. Hybridität beschrieben (vgl. Bogen 2005b, 75 f.; Heßler/Mersch 2009, 31 f.). (222)
Semiotisch ist das Diagramm ein Relationenbild, in dem eine Menge von Elementen und die Beziehungen zwischen ihnen nach Maßgabe struktureller Ikonizität verräumlicht dargestellt wird. (222)
Pragmatisch sind Diagramme dagegen Medien der Veranschaulichung und Visualisierung abstrakter Informationen, die in praktischen Handlungskontexten konkreten Erkenntniszwecken dienen und Teil der Handlungs- formen analytischer und synthetischer Schlusspraktiken sind. (223)
An die erkenntnistheoretischen Implikationen von Diagrammen schließen Ansätze an, in denen es zu einer Entgrenzung des Diagrammbegriffs im Sinne der Annahme der Existenz eines kognitiv-mentalen Diagramms kommt, die Diagrammatik also zu einer Theorie von kreativen Schlussprozessen avanciert. (223)
Christoph Ernst. Diagramm/Diagrammatik. Handbuch Medienwissenschaft. Metzler: 2014.
Anders gesagt, ist die Wissenschaft nicht mehr Ausdruck einer transzendenten Macht, da sie nicht mehr die Macht besitzt, wie eine solche »einfach so« »gültig« zu sein. (196)
Tatsächlich ist es so, dass wir alle durch die schiere Ausdehnung der Wissenschaften und der Technik in – freiwillige oder unfreiwillige – Teilnehmer an großen Experimenten verwandelt werden, von denen einige den ganzen Kosmos betreffen. Die einen sind als Forscher, andere als Geldgeber, wieder andere als Zeugen, und wieder andere schließlich als Versuchskaninchen im Labor. (197)
Wenn die wissenschaftliche Wahrheit nicht mehr zwingend ist, liegt es also nicht daran, dass das gute Volk irrational geworden wäre, sondern dass es zum Mitforschenden avanciert ist. Wenn es schon im Versuchslabor ist, dann kann das Volk auch die Wahrheiten ablehnen, die sich ohne Debatte »aufzwingen« wollen – und die es vielleicht auf dem Labortisch opfern würden. Kurz, die unhinterfragbaren Fakten sind diskutierbar geworden, und damit ist doch einiges für die Rationalität gewonnen. (197)
Wie Fundamentalisten sind wir schnell schockiert, wenn wir feststellen, dass wir uns nicht mehr an Dogmen, sondern an Kontroversen werden gewöhnen müssen. Wir nehmen Anstoß an dieser Freiheit, an dieser freien Forschung. Wir sehen darin einen Verlust und noch keinen Gewinn.
– Forschern, Konsumenten, Geldgebern, einfachen Bürgern, Studenten oder Journalisten: Wie soll man die konkurrierenden Versionen naturwissenschaftlicher und technischer Streitfälle darlegen, die zu allen allgemein interessierenden Gebieten unsere Aufmerksamkeit und unsere Überlegung erfordern? Anders ausgedrückt, wie könnte man zu einer Objektivität zurückfinden, die nicht mehr auf einem bewundernden Schweigen beruht, sondern auf dem Spektrum gegensätzlicher Meinungen, die auf Grund entgegengesetzter Versionen derselben Fragestellungen entstehen? Wie könnte man es erreichen, dass diese Versionen miteinander verknüpft werden, damit wir uns ein Urteil bilden können? Das ist der Kern dessen, was ich als Kartographie der wissenschaftlichen und technischen Kontroversen bezeichne. (197f.)
Geht es um zwei unterschiedliche Versionen? Ganz bestimmt. Sollte man Gefallen am Relativismus finden und beide Versionen gleichermaßen zurückweisen? Auf gar keinen Fall (199)
Bruno Latour, Von der wissenschaftlichen Wahrheit zur Kartographie von Kontroversen. In: Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Transcript: 2006.
Beim Versuch hybride Materialitäten zu entwickeln, fallen im vergleichenden Blick auf zwei getrennte Mineralien, noch unentdeckte Ähnlichkeiten ins Auge.
Eine Collage aus found material wächst aufeinander zu und wird zur narrativen Landschaft. Zwei Minerale bilden die getrennten Pole, die in einer Vereinigung aufeinandertreffen und doch gesondert bestehen bleiben. Gemeinsam ist den Gegenteilen die Textur: Filigran bis brüchig macht die Last an Details in ihrer Repetition spröde. Nur aus der kaleidoskopischen Symmetrie bezieht der Versatz der Bilder seinen vorläufigen Halt.
WS, Hybrid Materialities, Part II.
In aller Rhetorik steck die Gefahr der Selbstüberredung (5)
Philosophie, zumal in ihren deskriptiven Verfahren der Phänomenologie, ist Disziplin der Aufmerksamkeit. (5)
Jede Wissenschaft darf es sich leisten, ja wird es im Dienste ihrer Geltung und Förderungswürdigkeit nicht vermeiden können, gelegentlich Überraschendes mitzuteilen. Die Philosophie hat diesen Vorzug oder diese Last nicht. Im Gegenteil: Niemand darf überrascht sein zu erfahren, was sie zu sagen hat. Ihr „Effekt“ hat die milde Nachsicht zu sein mit dem, der sagt, was man beinahe selbst hätte sagen können – auch die Nachsicht mit sich selbst, dass man nur gerade übersehen hat, was sich bei ein wenig größerer Intensität des Hinsehens hätte sehen lassen müssen. (5)
Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne ist das, was die Philosophie gemein hat und was sie gemein macht mit allen „positiven“ Disziplinen. Nur daß allein sie kein anderes Verfahren hat, ihre „Phänomene“ zu konservieren, als sie zu beschreiben. Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreib, beschreibt sie das Hervortreten ihrer „Phänomene“, für die es keine andere Präparation gibt als eben diese Geschichte. Und wie das geschieht, ist wiederum eines ihrer „Phänomene“. Deshalb wird es eine Phänomenologie der Geschichte geben (6)
Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Reclam, Stuttgart: 1981.
Durch verschiedenen Zeichenübungen zeigt sich der Kristall in neuen Facetten. Die Interaktion führt zu einem neuen Kennen-Lernen und die Zeichnungen verlagert die Wirkung aufs Blatt. Dabei zeugen die Resultate von einer merkwürdigen Ambivalenz: Zum einen haben sie den eigentlichen Kristall längst hinter sich gelassen, neue Formen und Texturen hervorgebracht. Zum anderen aber haben sie eingefroren, wie der Kristall erfahrbar wird, welche Antlitze sich in dem Mineral im Augenblick des wiederholten Hinschauens zeigen.
WS_Hybrid Materialities. Part I.
Das zarte hellblaue bis farblose Mineral soll zwar von einem französischen Geologen auf Sizilien entdeckt worden sein, doch hat es seinen Ursprung in einem kleinen Dorf in Madagascar.
Im Tagebau tragen dort 50 Familien beinahe auf Augenhöhe des Meeres den Himmel ab. Im Deutschen ist man sich uneinig zwischen Cölestin und Coelestin (lateinisch, coelestis = himmelblau (bzw. himmlisch)). An diese kleine Verschriebung schließt eine große an: Die traditionelle Verwendung des Minerals liegt in der Entzuckerung von Melasse. Oder aber in der Produktion von Feuerwerk.
"Neben WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, verschiedenen chemischen Substanzen und Instrumenten sind maßgebend Laborgeräte und spezifische Anordnungen von Apparaten daran beteiligt, materielle Substanzen in Inskriptionen zu transformieren. Diese Geräte bezeichnet Latour als Inskriptionsgeräte. Die dabei produzierten Zahlen, Grafiken oder Texte können schließlich zur Argumentation in Publikationen herangezogen werden (vgl. Amelang 2012, S. 156; Latour und Woolgar 2017, Das Konzept der Inskription kann den Prozess der Wissensproduktion sichtbar machen, in dem materielle Substanzen in schriftliche Dokumente transformiert werden. Doch diese Sichtbarkeit ist zeitlich beschränkt, denn sobald eine Inskription vorliegt, werden nach Latour/Woolgar alle vorangehenden Schritte zur Black Box. Das Blackboxing bezeichnet jenen Prozess, im Zuge dessen der materielle Herstellungsprozess wissenschaftlichen Wissens nachträglich unsichtbar gemacht wird. Im Zentrum der Forschungsdiskussion steht dann nur noch das jeweilige Produkt, eine Inskription, die zu einem (scheinbar) unmittelbaren Indikator der materiellen Ausgangssubstanz wird und als Beweis für bzw. wider eine Theorie eingesetzt werden kann. Die Spuren des materiellen Herstellungsprozesses, der dieses Produkt erst entstehen ließ, werden dagegen als selbstverständlich erachtet, aus dem Gedächtnis der Akteure gelöscht und damit unsichtbar (vgl. Liburkina und Niewöhner 2017, S. 185)."
Weinert, Annika. Science and Technology Studies. Zur Materialität des wissenschaftlichen Vortrags. In: 10 Minuten Soziologie. Hg. Anna Henkel. Bielefeld: Transcript 2018. S. 93-105.
"Die Phänomenologie des Geistes beginnt mit der sogenannten "sinnlichen Gewissheit", denn Hegel will die Erfahrung des Lesens mit dem einsetzen lassen, was scheinbar am unzweifelhaftesten ist – mit der sinnlichen Wahrnehmung. Die von den Sinnen gelieferten Gewissheiten erweisen sich zwar als unzureichendes Fundament der Erkenntnis, aber als ebenso unerlässlich für jede zukünftige Form des Wissens. In dem Maße, wie der Text voranschreitet und unsere Erfahrung des Lesens zu dem Ort wird, an dem jedes Argument zugleich entfaltet und demonstriert wird, entdecken wir, dass es eine Unnachgiebigkeit der sinnlichen Welt gibt, die sich ebenso wenig überwinden lässt, wie sich die Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit des Körpers in Hegels frühen theologischen Schriften überwinden ließ, es sei denn in Form von Selbstzerstörung und Tod. In der Phänomenologie gewinnt der Tod eine zentralere Stellung im Verhältnis von Herr und Knecht, in dem zwei beseelte, lebendige und bewusste Gestalten ihrer Ähnlichkeit innewerden. Diese Anerkennung des eigenen Selbst als eines anderen oder des anderen als des Eigenen wird zum Ausgangspunkt dessen, was man Selbstbewusstsein nennt. Das heißt nichts anderes, als dass Selbsterkenntnis, verstanden als ein Zustand, in dem man sich selbst zum Gegenstand des Wissens macht (und wir sollten im Sinne Hegels hinzufügen: zu einem lebendigenGegenstand des Wissens), gesellschaftlich ist. Selbstbewusstsein ist niemals vollkommen einsam; es ist abhängig von einer anderen Verleiblichung des Bewusstseins, was bedeutet, dass ich nur als soziales Wesen beginnen kann, über mich selbst nachzudenken. Es ist die Begegnung, die Selbstbewusstsein artikuliert, weshalb das Selbstbewusstsein per definitionem gesellschaftlich ist. [...] Die beiden Subjekte, die einander begegnen, verändern einander nicht nur wechselseitig, sie entstehen auch aus dem jeweils anderen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns fragen, wie ein Subjekt wird, dann sehen wir, dass sich jedes Subjekt aus einer Abhängigkeit heraus entwickelt, aus einem anhaltenden Kampf um Differenzierung. Man kann nicht von Anfang an auf eigenen Beinen stehen; man kann nicht ohne die Hilfe anderer existieren, sicher auch nicht ohne das soziale und ökonomische Netzwerk, auf das die Pflegeperson baut. Jedes Subjekt entwickelt sich zu einem eigenständigen denkenden und sprechenden Wesen kraft einer Formation, die unauflösbar mit Abhängigkeit verbunden ist. Manchmal besitzt diese Abhängigkeit durchaus lustvolle Qualität, doch manchmal ist sie psychisch nicht zu ertragen. Abhängigkeit steckt also voller Ambivalenz. [...] Das Thema der gegenseitigen Abhängigkeit wird im Herr-und-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Der Knecht wird wie ein Gegenstand behandelt, und doch bearbeitet er einen Gegenstand. Ist er dieselbe Art von Ding oder Gegenstand wie der Gegenstand, den er bearbeitet? Während der Knecht den Gegenstand bearbeitet, sieht er die Wirkungen seiner eigenen Arbeit, und sein Selbstbewusstsein erwacht im Zuge dieser Erkenntnis. Zweifellos war es schlimm, ein Ding zu sein, doch nur indem er in äußerer Form außerhalb seiner selbst existierte, war er imstande, sich selbst zu sehen und zu erkennen, dass er etwas anderes ist als der Gegenstand, den er wahrnimmt. Sein Gegenstand trägt menschliche Züge. Als arbeitender Körper trägt der Körper ebenfalls Züge des Gegenstands. Selbstbewusstsein ist nur innerhalb einer Objektwelt möglich, und ohne Dinge, Objekte, Gegenstände würde sich keiner von uns als Mensch erkennen können. Sie sind nicht das Gegenteil von uns, sie sind das, was uns hält, die Bedingungen unserer Existenz. Der Knecht ernährt den Herrn, er baut dessen Unterkunft, er umgibt ihn mit einer Welt von Dingen. Während zuvor der Knecht an den Herrn und den Gegenstand gekettet war, sieht der Herr nun, dass er wegen all der Güter, die er zum Leben braucht, an den Knecht gekettet ist."
Zeit-Online, abgerufen online am 12.02.2020: https://www.zeit.de/2020/08/phaenomenologie-des-geistes-friedrich-hegel-judith-butler
(gerade leer macht das hier Sinn)
Man kann sich die beiden hier anvisierten Kulturtypen, der der Sinnkultur (oder Bedeutungskultur) und den der Präsenzkultur, von je verschiedenen Prämissen der menschlichen Selbstreferenz ausgehend vorstellen. In der Sinnkultur versteht sich der Mensch vornehmlich als Bewußtsein (cartesianisch: als res cogitans, als Subjekt), in der Präsenzkultur als Körper (res extensa). Als Subjekt ist der Mensch der Sinnkultur exzentrisch gegenüber der Welt der Dinge (er ist ihr »Beobachter«), während auf der anderen Seite der Körper (nichtexzentrischer) Teil jener kosmologischen Ordnung ist, als welche die Präsenzkultur die Welt der Dinge auffaßt. Das Subjekt »interpretiert« die Welt der Dinge, indem es ihre materiellen Oberflächen durchdringt und unter diesen Oberflächen Nichtmaterielles, nämlich Bedeutungen identifiziert. Dem Körper als Selbstreferenz der Präsenzkulturen hingegen kommt es zu, sich in die Rhythmen und Gesetzmäßigkeiten der Welt als kosmologischer Ordnung einzuschreiben. (66)
Weil man Zeit benötigt, um Intentionen zu verwirklichen, ist Zeit die dominante Dimension der Sinnkultur. Präsenzkultur dagegen wird dominiert von der Dimension des Raums, denn Räume konstituieren sich um Körper - also um die zentrale menschliche Selbstreferenz der Präsenzkultur. Die (dominierende) Zeitlichkeit der Sinnkultur ist irreversible Zeit, die Zeit einer unvermeidlich verändert werdenden Welt, eine Zeit, in der das Vergangene nie wiederkehren kann, weshalb es einzig für die Erinnerung zugänglich bleibt. Umkehrbar ist hingegen die Zeit der Präsenzkultur - und eben deshalb sind in ihr Magie und Re-Präsentation (Wieder-Gegenwärtigmachen) möglich. Präsenzkultur konstituiert sich um Rituale des Wieder-Gegenwärtigmachens, der Re-lnkarnation. (67)
Hans Ulrich Gumbrecht: „Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung“, in: Josef Früchtl, Jörg Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt am Main 2001, S. 63-76.
But an episode that will increase suspense by retarding the action must be so constructed that it will not fill the present entirely, will not put the crisis, whose resolution is being awaited, entirely out of the reader’s mind, and thereby destroy the mood of suspense; the crisis and the suspense must continue, must remain vibrant in the background. But Homer—and to this we shall have to return later—knows no background. What he narrates is for the time being the only present, and fills both the stage and the reader’s mind completely. So it is with the passage before us.
But any such subjectivistic-perspectivistic procedure, creating a foreground and background, resulting in the present lying open to the depths of the past, is entirely foreign to the Homeric style; the Homeric style knows only a foreground, only a uniformly illuminated, uniformly objective present. And so the excursus does not begin until two lines later, when Euryclea has discovered the scar—the possibility for a perspectivistic connection no longer exists, and the story of the wound becomes an independent and exclusive present.
Auerbach, Erich, and Edward W. Said. Mimesis : The Representation of Reality in Western Literature - New and Expanded Edition, Princeton University Press, 2013.
Während den Durst zu löschen er strebt, wird anderer Durst wach;
Denn im Trinken vom Schein des gesehenen Bildes bezaubert,
Liebt er einen Wahn: er hält für Körper, was Schatten.
Sich anstaunt er selbst, und starr mit dem selbigen Blicke
Ist er gebannt wie ein Bild aus parischem Marmor gefertigt;
Liegend betrachtet er stets gleichwie zwei Sterne die Augen,
Schaut mit Entzücken das Haar, das Apollons würdig und Bacchus',
Schaut den elfenen Hals und die Glätte der bartlosen Wangen
Und des Antlitzes Reiz und in schneeiger Weiße die Röte;
Alles bewundert er selbst, was wert ihn macht der Bewundrung;
Sich ersehnt er betört; der preist, wird selber gepriesen,
Der da strebet, erstrebt, und zugleich entzündet und brennt er.
Wie oft naht er umsonst mit Küssen der trügenden Quelle!
Wie oft mitten hinein, den gesehenen Hals zu ergreifen,
Taucht er die Arm' in die Flut und fasst sich nicht in den Wellen!
Unkund, was er erblickt, glüht für das Erblickte der Jüngling:
Der sein Auge betrügt, der Wahn auch hält es gefesselt.
Was, Leichtgläubiger, strebst du vergebens nach flüchtigem Scheinbild?
Nirgends ist, was du begehrst; sieh weg, und es flieht das Geliebte;
Schatten ist, was du gewahrst, vom widergespiegelten Bilde!
[…]
Vor mir steht es und lockt; doch was dasteht so verlockend,
Ach, ich find' es ja nicht. So fesselt den Liebenden Irrwahn.
Was noch mehret den Schmerz, nicht trennt uns die Weite des Meeres,
Nicht ein Gebirg', ein Weg, noch Mauern mit sperrenden Toren:
Karges Gewässer verbietet zu nahn. Selbst möcht' er umarmt sein;
Denn so oft ich den Mund darbiete den lauteren Wellen,
So oft kommt er zu mir mit aufwärts strebendem Antlitz.
Fast, fast scheint er berührt. Wie klein, was die Liebenden scheidet!
Wer du auch seist, komm her! Was trügst du mich, einziger Knabe?ecvh
[…]
Gibst du Worte zurück, die mir nicht dringen zu Ohren.
Ich bin, merk' ich, es selbst. Nicht täuscht mich länger mein Abbild.
Liebe verzehrt mich zu mir; ich errege und leide die Flamme.
Was tun? Soll ich flehn? Mich anflehen lassen? Um was dann?
Was ich begehre, ist mein. Zum Darbenden macht mich der Reichtum.
Dass ich vom eigenen Leib mich doch zu trennen vermöchte!
Was kein Liebender wünscht, ich wünsche mir fern, was ich liebe.
Weg schon nimmt mir die Kräfte der Schmerz, und meinem Leben
[…]
Rief er: "Wo fliehest du hin? O bleib und verlasse so fühllos
Mich, den Liebenden, nicht. Was nicht zu berühren vergönnt ist,
Lass mich wenigstens schaun und nähren den traurigen Wahnsinn."
ls er solches erblickt im wieder geklärten Gewässer,
Trug er länger es nicht: wie gelbliches Wachs an gelindem
Feuer gemach hinschmilzt und wie von der wärmenden Sonne
Taut in der Frühe der Reif, so auch von der Liebe verzehret
Schwindet er hin und vergeht allmählich vom inneren Feuer.
[…]
Da auch noch, wie er längst dem Reich der Toten gehörte,
Schaut er sich selbst in der stygischen Flut.
Ovid, Metamorphosen. Lieber III. Narcissus und Echo.
Die vornehmlich in der Philosophie, der Kunstgeschichte und Bildwissenschaft (s. Kap. IV.7) entwickelte Standardsicht auf Diagramme als einem Medium, das zwischen visuell-bildlicher Anschauung und begrifflich-sprachlicher Abstraktion vermittelt, verweist auf eine für die gesamte Diagrammatik entscheidende intermediale Verschränkung zwischen den semiotischen Basismedien Bild, Schrift und Zahl (s. Kap. III.1). (222)
Diagrammatische Formen übernehmen im Zusammenspiel dieser Basismedien darstellungstheoretisch eine eigenständige Integrations- und Übersetzungsfunktion. Diese Integrations- und Übersetzungsfunktion wird oft als eine zwischen Bild, Schrift und Zahl changierende Medialität bzw. Hybridität beschrieben (vgl. Bogen 2005b, 75 f.; Heßler/Mersch 2009, 31 f.). (222)
Semiotisch ist das Diagramm ein Relationenbild, in dem eine Menge von Elementen und die Beziehungen zwischen ihnen nach Maßgabe struktureller Ikonizität verräumlicht dargestellt wird. (222)
Pragmatisch sind Diagramme dagegen Medien der Veranschaulichung und Visualisierung abstrakter Informationen, die in praktischen Handlungskontexten konkreten Erkenntniszwecken dienen und Teil der Handlungs- formen analytischer und synthetischer Schlusspraktiken sind. (223)
An die erkenntnistheoretischen Implikationen von Diagrammen schließen Ansätze an, in denen es zu einer Entgrenzung des Diagrammbegriffs im Sinne der Annahme der Existenz eines kognitiv-mentalen Diagramms kommt, die Diagrammatik also zu einer Theorie von kreativen Schlussprozessen avanciert. (223)
Christoph Ernst. Diagramm/Diagrammatik. Handbuch Medienwissenschaft. Metzler: 2014.
Anders gesagt, ist die Wissenschaft nicht mehr Ausdruck einer transzendenten Macht, da sie nicht mehr die Macht besitzt, wie eine solche »einfach so« »gültig« zu sein. (196)
Tatsächlich ist es so, dass wir alle durch die schiere Ausdehnung der Wissenschaften und der Technik in – freiwillige oder unfreiwillige – Teilnehmer an großen Experimenten verwandelt werden, von denen einige den ganzen Kosmos betreffen. Die einen sind als Forscher, andere als Geldgeber, wieder andere als Zeugen, und wieder andere schließlich als Versuchskaninchen im Labor. (197)
Wenn die wissenschaftliche Wahrheit nicht mehr zwingend ist, liegt es also nicht daran, dass das gute Volk irrational geworden wäre, sondern dass es zum Mitforschenden avanciert ist. Wenn es schon im Versuchslabor ist, dann kann das Volk auch die Wahrheiten ablehnen, die sich ohne Debatte »aufzwingen« wollen – und die es vielleicht auf dem Labortisch opfern würden. Kurz, die unhinterfragbaren Fakten sind diskutierbar geworden, und damit ist doch einiges für die Rationalität gewonnen. (197)
Wie Fundamentalisten sind wir schnell schockiert, wenn wir feststellen, dass wir uns nicht mehr an Dogmen, sondern an Kontroversen werden gewöhnen müssen. Wir nehmen Anstoß an dieser Freiheit, an dieser freien Forschung. Wir sehen darin einen Verlust und noch keinen Gewinn.
– Forschern, Konsumenten, Geldgebern, einfachen Bürgern, Studenten oder Journalisten: Wie soll man die konkurrierenden Versionen naturwissenschaftlicher und technischer Streitfälle darlegen, die zu allen allgemein interessierenden Gebieten unsere Aufmerksamkeit und unsere Überlegung erfordern? Anders ausgedrückt, wie könnte man zu einer Objektivität zurückfinden, die nicht mehr auf einem bewundernden Schweigen beruht, sondern auf dem Spektrum gegensätzlicher Meinungen, die auf Grund entgegengesetzter Versionen derselben Fragestellungen entstehen? Wie könnte man es erreichen, dass diese Versionen miteinander verknüpft werden, damit wir uns ein Urteil bilden können? Das ist der Kern dessen, was ich als Kartographie der wissenschaftlichen und technischen Kontroversen bezeichne. (197f.)
Geht es um zwei unterschiedliche Versionen? Ganz bestimmt. Sollte man Gefallen am Relativismus finden und beide Versionen gleichermaßen zurückweisen? Auf gar keinen Fall (199)
Bruno Latour, Von der wissenschaftlichen Wahrheit zur Kartographie von Kontroversen. In: Kontroversen als Schlüssel zur Wissenschaft? Transcript: 2006.
Beim Versuch hybride Materialitäten zu entwickeln, fallen im vergleichenden Blick auf zwei getrennte Mineralien, noch unentdeckte Ähnlichkeiten ins Auge.
Eine Collage aus found material wächst aufeinander zu und wird zur narrativen Landschaft. Zwei Minerale bilden die getrennten Pole, die in einer Vereinigung aufeinandertreffen und doch gesondert bestehen bleiben. Gemeinsam ist den Gegenteilen die Textur: Filigran bis brüchig macht die Last an Details in ihrer Repetition spröde. Nur aus der kaleidoskopischen Symmetrie bezieht der Versatz der Bilder seinen vorläufigen Halt.
WS, Hybrid Materialities, Part II.
In aller Rhetorik steck die Gefahr der Selbstüberredung (5)
Philosophie, zumal in ihren deskriptiven Verfahren der Phänomenologie, ist Disziplin der Aufmerksamkeit. (5)
Jede Wissenschaft darf es sich leisten, ja wird es im Dienste ihrer Geltung und Förderungswürdigkeit nicht vermeiden können, gelegentlich Überraschendes mitzuteilen. Die Philosophie hat diesen Vorzug oder diese Last nicht. Im Gegenteil: Niemand darf überrascht sein zu erfahren, was sie zu sagen hat. Ihr „Effekt“ hat die milde Nachsicht zu sein mit dem, der sagt, was man beinahe selbst hätte sagen können – auch die Nachsicht mit sich selbst, dass man nur gerade übersehen hat, was sich bei ein wenig größerer Intensität des Hinsehens hätte sehen lassen müssen. (5)
Dienst an der Schärfung der Wahrnehmungsfähigkeit im weitesten Sinne ist das, was die Philosophie gemein hat und was sie gemein macht mit allen „positiven“ Disziplinen. Nur daß allein sie kein anderes Verfahren hat, ihre „Phänomene“ zu konservieren, als sie zu beschreiben. Sogar wenn sie ihre eigene Geschichte schreib, beschreibt sie das Hervortreten ihrer „Phänomene“, für die es keine andere Präparation gibt als eben diese Geschichte. Und wie das geschieht, ist wiederum eines ihrer „Phänomene“. Deshalb wird es eine Phänomenologie der Geschichte geben (6)
Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben. Reclam, Stuttgart: 1981.
Durch verschiedenen Zeichenübungen zeigt sich der Kristall in neuen Facetten. Die Interaktion führt zu einem neuen Kennen-Lernen und die Zeichnungen verlagert die Wirkung aufs Blatt. Dabei zeugen die Resultate von einer merkwürdigen Ambivalenz: Zum einen haben sie den eigentlichen Kristall längst hinter sich gelassen, neue Formen und Texturen hervorgebracht. Zum anderen aber haben sie eingefroren, wie der Kristall erfahrbar wird, welche Antlitze sich in dem Mineral im Augenblick des wiederholten Hinschauens zeigen.
WS_Hybrid Materialities. Part I.
Das zarte hellblaue bis farblose Mineral soll zwar von einem französischen Geologen auf Sizilien entdeckt worden sein, doch hat es seinen Ursprung in einem kleinen Dorf in Madagascar.
Im Tagebau tragen dort 50 Familien beinahe auf Augenhöhe des Meeres den Himmel ab. Im Deutschen ist man sich uneinig zwischen Cölestin und Coelestin (lateinisch, coelestis = himmelblau (bzw. himmlisch)). An diese kleine Verschriebung schließt eine große an: Die traditionelle Verwendung des Minerals liegt in der Entzuckerung von Melasse. Oder aber in der Produktion von Feuerwerk.
"Neben WissenschaftlerInnen, TechnikerInnen, verschiedenen chemischen Substanzen und Instrumenten sind maßgebend Laborgeräte und spezifische Anordnungen von Apparaten daran beteiligt, materielle Substanzen in Inskriptionen zu transformieren. Diese Geräte bezeichnet Latour als Inskriptionsgeräte. Die dabei produzierten Zahlen, Grafiken oder Texte können schließlich zur Argumentation in Publikationen herangezogen werden (vgl. Amelang 2012, S. 156; Latour und Woolgar 2017, Das Konzept der Inskription kann den Prozess der Wissensproduktion sichtbar machen, in dem materielle Substanzen in schriftliche Dokumente transformiert werden. Doch diese Sichtbarkeit ist zeitlich beschränkt, denn sobald eine Inskription vorliegt, werden nach Latour/Woolgar alle vorangehenden Schritte zur Black Box. Das Blackboxing bezeichnet jenen Prozess, im Zuge dessen der materielle Herstellungsprozess wissenschaftlichen Wissens nachträglich unsichtbar gemacht wird. Im Zentrum der Forschungsdiskussion steht dann nur noch das jeweilige Produkt, eine Inskription, die zu einem (scheinbar) unmittelbaren Indikator der materiellen Ausgangssubstanz wird und als Beweis für bzw. wider eine Theorie eingesetzt werden kann. Die Spuren des materiellen Herstellungsprozesses, der dieses Produkt erst entstehen ließ, werden dagegen als selbstverständlich erachtet, aus dem Gedächtnis der Akteure gelöscht und damit unsichtbar (vgl. Liburkina und Niewöhner 2017, S. 185)."
Weinert, Annika. Science and Technology Studies. Zur Materialität des wissenschaftlichen Vortrags. In: 10 Minuten Soziologie. Hg. Anna Henkel. Bielefeld: Transcript 2018. S. 93-105.
"Die Phänomenologie des Geistes beginnt mit der sogenannten "sinnlichen Gewissheit", denn Hegel will die Erfahrung des Lesens mit dem einsetzen lassen, was scheinbar am unzweifelhaftesten ist – mit der sinnlichen Wahrnehmung. Die von den Sinnen gelieferten Gewissheiten erweisen sich zwar als unzureichendes Fundament der Erkenntnis, aber als ebenso unerlässlich für jede zukünftige Form des Wissens. In dem Maße, wie der Text voranschreitet und unsere Erfahrung des Lesens zu dem Ort wird, an dem jedes Argument zugleich entfaltet und demonstriert wird, entdecken wir, dass es eine Unnachgiebigkeit der sinnlichen Welt gibt, die sich ebenso wenig überwinden lässt, wie sich die Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit des Körpers in Hegels frühen theologischen Schriften überwinden ließ, es sei denn in Form von Selbstzerstörung und Tod. In der Phänomenologie gewinnt der Tod eine zentralere Stellung im Verhältnis von Herr und Knecht, in dem zwei beseelte, lebendige und bewusste Gestalten ihrer Ähnlichkeit innewerden. Diese Anerkennung des eigenen Selbst als eines anderen oder des anderen als des Eigenen wird zum Ausgangspunkt dessen, was man Selbstbewusstsein nennt. Das heißt nichts anderes, als dass Selbsterkenntnis, verstanden als ein Zustand, in dem man sich selbst zum Gegenstand des Wissens macht (und wir sollten im Sinne Hegels hinzufügen: zu einem lebendigenGegenstand des Wissens), gesellschaftlich ist. Selbstbewusstsein ist niemals vollkommen einsam; es ist abhängig von einer anderen Verleiblichung des Bewusstseins, was bedeutet, dass ich nur als soziales Wesen beginnen kann, über mich selbst nachzudenken. Es ist die Begegnung, die Selbstbewusstsein artikuliert, weshalb das Selbstbewusstsein per definitionem gesellschaftlich ist. [...] Die beiden Subjekte, die einander begegnen, verändern einander nicht nur wechselseitig, sie entstehen auch aus dem jeweils anderen. Mit anderen Worten: Wenn wir uns fragen, wie ein Subjekt wird, dann sehen wir, dass sich jedes Subjekt aus einer Abhängigkeit heraus entwickelt, aus einem anhaltenden Kampf um Differenzierung. Man kann nicht von Anfang an auf eigenen Beinen stehen; man kann nicht ohne die Hilfe anderer existieren, sicher auch nicht ohne das soziale und ökonomische Netzwerk, auf das die Pflegeperson baut. Jedes Subjekt entwickelt sich zu einem eigenständigen denkenden und sprechenden Wesen kraft einer Formation, die unauflösbar mit Abhängigkeit verbunden ist. Manchmal besitzt diese Abhängigkeit durchaus lustvolle Qualität, doch manchmal ist sie psychisch nicht zu ertragen. Abhängigkeit steckt also voller Ambivalenz. [...] Das Thema der gegenseitigen Abhängigkeit wird im Herr-und-Knecht-Kapitel der Phänomenologie des Geistes entwickelt. Der Knecht wird wie ein Gegenstand behandelt, und doch bearbeitet er einen Gegenstand. Ist er dieselbe Art von Ding oder Gegenstand wie der Gegenstand, den er bearbeitet? Während der Knecht den Gegenstand bearbeitet, sieht er die Wirkungen seiner eigenen Arbeit, und sein Selbstbewusstsein erwacht im Zuge dieser Erkenntnis. Zweifellos war es schlimm, ein Ding zu sein, doch nur indem er in äußerer Form außerhalb seiner selbst existierte, war er imstande, sich selbst zu sehen und zu erkennen, dass er etwas anderes ist als der Gegenstand, den er wahrnimmt. Sein Gegenstand trägt menschliche Züge. Als arbeitender Körper trägt der Körper ebenfalls Züge des Gegenstands. Selbstbewusstsein ist nur innerhalb einer Objektwelt möglich, und ohne Dinge, Objekte, Gegenstände würde sich keiner von uns als Mensch erkennen können. Sie sind nicht das Gegenteil von uns, sie sind das, was uns hält, die Bedingungen unserer Existenz. Der Knecht ernährt den Herrn, er baut dessen Unterkunft, er umgibt ihn mit einer Welt von Dingen. Während zuvor der Knecht an den Herrn und den Gegenstand gekettet war, sieht der Herr nun, dass er wegen all der Güter, die er zum Leben braucht, an den Knecht gekettet ist."
Zeit-Online, abgerufen online am 12.02.2020: https://www.zeit.de/2020/08/phaenomenologie-des-geistes-friedrich-hegel-judith-butler